Bei einem Schlaganfall zählt jede Sekunde – nicht umsonst heißt der Laientest FAST (Face – Arms – Speech – Time), der nach diesen Kriterien erkennen helfen soll, ob ein Schlaganfall eingetreten ist: Kann der oder die Betroffene nicht gleichzeitig lächeln, die Arme heben und einen einfachen Satz sagen, muss sofort ein Notarzt verständigt werden.

Um die Hilfe für Patienten zu beschleunigen, haben die Krankenhäuser im ganzen Bundesgebiet sog. Stroke Units eingerichtet, die auf die Behandlung von Hirninfarkten spezialisiert sind. Es dauert nur Minuten, bis ein eingelieferter Patient mit entsprechendem Verdacht auf Schlaganfall ein CT bekommt. Per Video können in den großen Kliniken rund um die Uhr in Bereitschaft gehaltene Neurochirurgen zugeschaltet werden, die dem Arzt vor Ort Anweisungen bei der Diagnose und Erstbehandlung erteilen. Bei komplizierteren Fällen (etwa fünf Prozent der Patienten) muss eine Verlegung in eine Groß- bzw. Spezialklinik veranlasst werden.

Hier setzt der Streitfall zwischen Kliniken und Krankenkassen an: Um Anreize für die schnelle Behandlung und Verlegung solcher Patienten zu schaffen, zahlten Krankenkassen eine Prämie für die Geschwindigkeit der Verlegung von betroffenen Patienten aus regionalen in überregionale Stroke-Unit-Zentren. Bislang wurde diese Prämie ausgezahlt, wenn die Zeit, die der Patient in einem geeigneten Transportmittel (z. B. einem Rettungshubschrauber) verbracht hatte, 30 Minuten nicht überschritt.

Und nun wird es kompliziert:

Im Zuge eines am 9. November 2018 verabschiedeten Gesetzes (Pflegepersonal-Stärkungsgesetz, PpSG) wurden die Verjährungsfristen für Ansprüche der Krankenkassen gegen Kliniken von vier auf zwei Jahre verkürzt: Ursprünglicher Gedanke war es, so das Bundesministerium für Gesundheit, die Kliniken vor einer Klagewelle der Krankenkassen zu schützen. Das Gegenteil ist indes passiert: Die Krankenkassen fürchteten um den Verlust ihrer Ansprüche und reichten im Nachgang der Gesetzesverabschiedung allein in Bayern über 14.000 Klagen ein.

Hintergrund diese Klageflut waren zwei am 19. Juni ergangene Urteile des Bundessozialgerichts (B 1 KR 38/17 R sowie B 1 KR 39/17 R), in denen das Gericht feststellte, dass die bisherige Praxis der Kliniken, die „höchstens halbstündige Transportzeit“ als alleinige Zeit im Transportmittel auszulegen und sodann nach dem Schlüssel OPS 8-98b abzurechnen (das war die oben beschriebene Zusatzprämie), fehlerhaft war. Dazu führte das Gericht aus, dass „die höchstens halbstündige Transportentfernung […] sich nach dem Zeitintervall zwischen Rettungstransportbeginn, dem Ingangsetzen der Rettungskette durch die Entscheidung, ein Transportmittel anzufordern, und Rettungstransportende, der Übergabe des Patienten an die behandelnde Einheit im Kooperationspartner-Krankenhaus“ bemesse.[1]

Damit stand fest, dass Kliniken landauf, landab eine in den Augen des Gerichts unrechtmäßige Abrechnungspraxis betrieben haben, die nun Rückforderungsansprüche der Krankenkassen begründeten, und zwar rückwirkend auf vier Jahre, wie das Gericht ebenfalls feststellte.

Das neue Gesetz wirkt damit wie ein – missglückter – Versuch der Politik, die Kliniken vor genau diesen Ansprüchen zu schützen; eine Reaktion auf eine durchaus plötzliche und aus Patientenbedarfsperspektive weltfremde Änderung der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, das bis vor Kurzem noch standhaft verfocht, OPS-Kodes und Abrechnungsregeln seien „allgemein streng nach ihrem Wortlaut sowie den dazu vereinbarten Abrechnungsregeln“ zu handhaben.[2]

Die Krankenkassen überziehen die Kliniken nun also bundesweit mit Klagen wegen falscher Abrechnungen. Den Krankenhäusern drohen damit Millionenschäden, die sie – so die Diagnose führender Neurochirurgen – damit wettmachen werden, ihre regionalen Stroke-Units zu schließen, weil diesen ja nun auch in Zukunft die Finanzierung durch die Zusatzprämie fehlen wird.[3] Das Ergebnis: Die Versorgung von Schlaganfallpatienten in ländlichen Regionen wird zusammenbrechen. Hinzu tritt, dass die Forderung des Bundessozialgerichts, der Transportweg, wie es ihn auslegt, müsse „regelmäßig“ unter einer halben Stunde absolviert werden, nach Einschätzung der Deutschen Gesellschaft für Neurologie und der Deutschen Schlaganfall Gesellschaft utopisch sei: „Selbst in hochverdichteten Regionen Deutschlands kann eine solchermaßen definierte Transportzeit nicht eingehalten werden“.[4]

Weiter heißt es: „Die Konsequenz des Urteils ist, dass sich bedarfsnotwendige Krankenhäuser aus der Schlaganfallversorgung zurückziehen werden, da sie keine angemessene Vergütung mehr für ihre Leistungen erhalten. Eine solche Entwicklung wäre gänzlich zum Nachteil der Patienten, die beides brauchen, die schnell erreichbare lokale Schlaganfalleinheit wie auch solche vernetzten Zentren für spezialisierte Therapien.“[5]

Unter diesem Eindruck entstand etwa im Gesundheitsministerium des Landes Rheinland-Pfalz ein Runder Tisch, zu dem Gesundheitsministerin Sabine Bätzing-Lichtenthäler (SPD) betroffene Krankenkassen und Kliniken einlud. Geleitet werden die Gespräche von Mediator Ernst Merz, dem Präsidenten des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz a. D..

Nachdem auf Bundesebene bereits eine Einigung in Sicht kommt – das Bundesgesundheitsministerium empfahl eine Rücknahme der Klagen –, zeichnet sich auch im Südwesten ein Konsens ab; dazu Merz: „Heute ist deutlich geworden, dass es bei den Handelnden in Rheinland-Pfalz die Bereitschaft gibt, auf Basis der Bundesempfehlungen eine für alle Beteiligten akzeptable Lösung zu erarbeiten und umzusetzen. Mit dem heutigen Gespräch sind wir auf diesem Weg einen großen Schritt weitergekommen. […] Die Beteiligten haben Einvernehmen erklärt, bis dahin Detailfragen zu klären“. Merz wolle auch das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in unser Gesundheitssystem stärken und zugleich eine Entlastung der Sozialgerichtsbarkeit erreichen.[6]

Dr. Lewis Johnston

Quellen: SWR Aktuell; www.br.de; dpa-Newskanal.

[1] BSG, Urt. v. 19. Juni 2018, – B 1 KR 38/17 R – Rn 21, s. www.sozialgerichtsbarkeit.de.
[2] Dazu die gemeinsame Pressemitteilung der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) und der Deutschen Schlaganfall Gesellschaft (DSG), „Urteil des Bundessozialgerichts gefährdet die Versorgung von Schlaganfallpatienten“, nachzulesen bei: https://www.dgn.org/presse/pressemitteilungen/56-pressemitteilung-2018/3627-urteil-des-bundessozialgerichts-gefaehrdet-die-versorgung-von-schlaganfallpatienten (zuletzt aufgerufen am 9. Juli 2019).
[3] Vgl. dies., ebd.
[4] Dies., ebd.
[5] Dies., ebd.
[6] Aus: „Ernst Merz: Runder Tisch der Ministerin ist auf gutem Weg“, https://msagd.rlp.de/de/service/presse/detail/news/detail/News/ernst-merz-runder-tisch-der-ministerin-ist-auf-gutem-weg-1/ (zuletzt aufgerufen am 9. Juli 2019).

 

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